14. 11.
Heute nehmen wir es ruhig, Internet, Stadtspaziergang, Luftseilbahn. Wir bereiten uns auf eine grosse Kasachstanfahrt vor.
Neue Route, kleiner Umweg
Heute früh haben wir erfahren, dass die Route, die wir ausgesucht haben, wieder einmal landschaftlich sehr schön ist, aber strassenmässig kriminell. In einem Internetcafe – das Internet im Hotel geht nicht! –, in dem wir den neuesten Bericht versenden, machen wir uns schlau, so gut es geht. Wir werden zuerst in die neue Hauptstadt Astana fahren, die Strasse dort, ist gut, dann nach Pavlodar, das ebenso am Irtytsch liegt, wie Semipalatinsk, und dann direkt nach Baranaul in Russland, wenn die Strasse nach der Grenze o.k. ist (bis zur Grenze soll sie hervorragend sein), sonst über Semipalatinsk und dann hoch. Der Umweg wird 500 bis 700 Kilometer sein, aber das ist nichts gegen 1000 Kilometer Schlagloch, Kies, Wellblech usw. usf.
Meine Bemerkung, dass wir die Fahrt nach Astana hätten einfacher haben können, wenn wir von Atyrau am Kaspischen Meer – das wir übrigens nie gesehen haben! – direkt gefahren wären, statt rechts nach Usbekistan abzubiegen, diese Bemerkung konterte Elo mit einem gelassenen: „Wir hätten auch nach Australien fliegen können.“ Und erneut hat sie recht.
Vater des Apfels
Dann sind wir fast eine Stunde durch die Stadt gelaufen, immer leicht hoch. Almaty müsste eigentlich mit Frauenfeld und Frankfurt Partnerschaften haben, denn übersetzt heisst die Stadt „Vater des Apfels“. Und die Früchtemärkte sind auch wunderschön.Das Wetter ist angenehm, die Sonne sticht zwar etwas, aber es hat viele Bäume und immer einen schönen Wind von den Bergen.Almaty hat zwar keine tourischen Higlights, wenn wir von den vielen vater- und andersländischen Monumenten absehen, aber es ist eine schöne und grüne Stadt mit vielen Wasserspielen. In einem Park steht ganz farbig eine alte russische Holzkirche.
Luftseilbahn
Wir wollten zur Gondelbahn auf einen Aussichtspunkt, und das war dann eine – fast – ausgewachsene Luftseilbahn mit zwei Gondeln. Etwas klapprig zwar, aber Innenverkleidung aus Holz. Und wir haben es überlebt. Die Höhendifferenz ist klein, aber die Aussicht auf die Berge im Süden prächtig. Sogar eine Schisprunganlage haben wir entdeckt, mit Normal- und Grossschanze.Morgen geht die nächste grosse Fahrt los.
15.-18.8.
Reisen als Leistungssport
Wir haben in den letzen vier Tagen über 2500 Kilometer gemacht, und wir sind jetzt in Novosibirsk an der Transsibirischen Eisenbahn. Elo ist die Hälfte gefahren, unabhängig des Strassenzustands, der zwar nicht gerade usbekische Dimensionen hat, aber oft auch nicht von schlechten Eltern ist. Wir lösen uns stur alle hundert Kilometer ab, d.h. alle anderthalb bis zwei Stunden, je nach Verhältnissen. Während Elo fährt, mache ich mir Gedanken: Wir betreiben das Reisen als Leistungssport. Andere gehen mit Baumeler Velofahren, machen Bergrtouren, wandern durch die Sahara, joggen und marathonen – wir reisen. Nicht Hochleistungssport, das liegt uns nicht, aber doch Leistungssport.
In Kasachstan sind wir zuerst Richtung der neuen Hauptstadt gefahren, und zwar 850 Kilometer. Das erste Drittel Strecke war eher schlecht, dann war es gut. Nach der Mittagspause im Schatten einer Tankstelle hat uns die Hitze nochmals fast umgehauen. Wir haben uns mit einem nassen Handtuch gerettet, das wir uns um den Hals hängten. Wolfgangs Rat sei Dank.
Säufer-Büssli
Hinter dem Hügel
Wir haben dann am Abend an einer Strassenkreuzung (Tankstellen, Restaurants, nichts weiter) in einer Lastwagenbeiz einfach aber gut gegessen. Dann sind wir noch etwas gefahren und haben uns hinter einer Bodenwelle verschlauft, und zwar so, dass wir von den Scheinwerfern nicht erfasst wurden und den Strassenlärm nicht hatten. Ausblick hatten wir auf die Bahnlinie, auf der Riesengüterzüge fahren.
----------------Exkurs 1: Ein Tag im Leben einer(s) Büsslieisenden
Wie verläuft so ein durchschnittlicher Reisetag mit Büssliübernachtung?
Um halb sechs schellt der Wecker, denn sonst würden wir schlafen bis in die Puppen, so bequem und ruhig ist das. Wir aber wollen auf die Piste, solange es nicht heiss ist. Die Sonne ist noch nicht auf, aber es ist hell genug, dass wir, nach Katzenwäsche, um 0545 losfahren können, denn vorher sieht man die Schlaglöcher nicht.
Die Strasse lesenDie Strasse muss man lesen, wie ein Buch: Belagswechsel bringen meist Schläge, Verschlechterung (manchmal auch Verbesserung) der Fahrbahnqualität, Brücken sind immer für Löcher und Schläge gut; Bahnübergänge immer kriminell, dunkle Flecken auf der Strasse sind manchmal Flicke, manchmal aber auch Löcher; Bremsspuren weisen auf Hindernisse hin; Wellen in Längsrichtung sind meist Spurrillen von ungewisser Tiefe und mit senkrechten seitlichen Begrenzungen; der rechte Rand ist meist ausgeschlagen, mit tiefen Löchern und/oder Delllen, die stark schlagen; wenn der Vordermann auf die linke Seite fährt, tust du es besser auch, da er die Strecke besser kennt, als du; wenn er stark hoppelt vor dir, dann ist da was los; usw. usf. Du musst immer auf dem qui vife sein, sonst bist du verloren. Gas geben, damit du vorwärts kommst, vom Gas und/oder vorbremsen, vollbremsen und vor dem Hindernis lösen, ausweichen. Das ist anstrengend, und daher ist es ein Segen, wenn beide voll fahren können, wie bei uns.
Frühstück, Mittagessen, Mittagspause, Abendrast
Nach den ersten hundert Kilometern wird gehalten und im Auto gefrühstückt. Schüttelbrot, Trockenfrüchte, Wasser. Wasser trinken wir literweise, auch während des Fahrens.Dann geht es weiter. Wir fahren bis gegen Mittag (ca. sechs Stunden). Dann suchen wir ein Strassenrestaurant, essen ein Nudelgericht, Fisch oder Huhn, Brot, Tee. Das sättigt gut und hält für einen Tag.
Dann suchen wir uns einen Schattenplatz und machen zwei Stunden Pause: Lesen und Schlafen.
Anschliessend kommt die restliche Etappe, je nach dem noch drei bis vier Stunden. Vielleicht halten wir mal und kochen mit dem Primuskocher (super!) einen Kaffee. Am Abend vor es dunkel wird (ca. 8 Uhr) suchen wir uns einen geschützten Platz (geschützt vor Sicht und Lärm) und richten uns ein. Wir kochen einen Tee, rauchen (ich) eine Brissago und essen das Gleiche wie am Morgen.
Eptingerdusche
Dann waschen wir uns mit der Eptingerdusche: Eine Eptingerflasche Wasser und einen Flaschenverschluss mit drei Löchern. Das geht sehr gut. Und dann ab in den Bus, noch etwas lesen und früh schlafen, denn wir sind entsprechend müde nach 600 bis 800 Kilometer Tagesleistung. Halb sechs wir der Wecker klingeln. (Wenn Gret oder Ruth anrufen, klingelt es auch etwas früher, aber wir sind froh, sie zu hören!)Es lebe das Büssli
Wir leben also einfach, aber es gefällt uns ausgezeichnet. Ich bin fast abstinent (!, ja so ist es), und ich habe auch schon ein paar Pfunde auf der Strecke gelassen. Ich bin also dem Ziel, das ich mir als Weihnachtsgeschenk für Elo habe einfallen lassen („hurra!, minus 20 Pfund“, sagt Tobias Knopp bei Wilhelm Busch).
Elo, die es ja immer schauderte, wenn sie nur schon das Wort Camping hörte, ist glücklich im Büssli. Und das Büssli ist wirklich ein Segen (Danke, Johnny!): Wir können die Etappen flexibel planen, müssen nicht auf Uebernachtungsmöglichkeiten schielen, können anhalten, wann wir wollen und sind nicht auf halbseidene Hotels angewiesen. Eine Nacht im Büssli ist ein Genuss!
KanLag
Am nächsten Tag sind wir nach Astana gefahren. Dabei kamen wir durch Karagandy, das Zentrum eines riesigen Gulags aus der Stalinzeit, KanLag genannt. Das Bergbau- und Schwerindustriegebiet wurde vorab mit Zwangsverschickten berieben, und es war fast so gross, wie Frankreich. Im Sommer sehr heiss, im Winter hundekalt, dazwischen nichts. Wirklich hart. Karagandy ist heute eine Industriestad, mit Plattenbauten, breiten Alleen, von den vielen Lastern zusammengerittenen Strassen – kein Ort, um Ferien zu machen.
Aehnliches ist von Astana zu sagen, das zwar eine schöne Flusspromenade und Einkaufsmöglichkeiten hat, aber eben auch eher zum Einschlafen als zum Aufwachen ist. Wir haben dort gut gegessen, aber es hielt uns nichts, und wir sind weiter gefahren, bis wir eine Schlafstelle fanden.
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Exkurs 2: Unterstützung des Sicherheitsapparates – „Bussen“
Elo
hat vorgestern den kasachischen und ich heute den russischen Sicherheitsapparat unterstützt, oder zu gut deutsch das Einkommen von 4 Polizisten aufgebessert. Sie haben es „Strafe“ genannt, in beiden Ländern, und damit wohl Busse gemeint. Der Staatsdapparat wird davon aber nichts gesehen haben.
Auf einer Kuppe habe ich fotografiert, und dann hat Elo das Licht nicht wieder eingeschaltet. Gleich hinter der nächsten Kurve standen sie, einer ist rausgetreten, hat seinen Polizistenstock, den sie alle haben, nach unten geschwenkt und über die Strasse. Dass ich dann ausgestiegen bin, und nicht Elo als Fahrerin, störte ihn nicht. Ich musst in ihr Auto klettern, das gehört sich hier so, und die quietschende Türe schliessen. Dann haben sie mir alles erklärt und das Foto von unserem nicht beleuchteten Bus gezeigt. Und mir dann einen irgendwie gearteten Bussenkatalog auf Kyrillisch gezeigt. Als ich dann das Portemonnaie zückte haben sie 10000 Tenge (50 Franken) behändigt und mich wieder fortgeschick. Erst nachher ist mir eingefallen, das da noch was zu verhandeln gewesen wäre!
100 Kilometer weiter haben sie mich nochmals ohne Licht gefilmt, aber hatten ein gutmütiges Einsehen mit den Schweizerdeutsch sprechenden Touristen.
Jürg
Aber heute war ich dran. Hier in Novosibirsk wollte ich von der Hoteleinfahrt in den Parkplatz einfahren, musste dabei auf die Strasse und merkte nicht, dass es Einbahn war. Ich habe gehört, dass hinter mir irgendwas wie ein Krankenauto heulte, dachte mir aber nichts dabei, als ich auf den Parkplatz fuhr. Plötzlich war das Heulen stärker, und sie waren neben mir. Sie waren offensichtlich aufgebracht, dass ich sie nicht beachtet hatte.
Sie wollten mein „Dokument“, und ich meinte den Pass, der an der Rezeption war. Das war nochmals falsch, und als sie dann zu brüllen begannen, ist mir der Fahrausweis eingefallen. Den haben sie dann sofort behändigt, und mich in ihr Auto verschleppt. Das Büssli blieb mit steckendem Schlüssel mitten auf dem – bewachten – Parkplatz, sie fuhren mit mir raus. Dann gab es längere Verhandlungen, in dem sie mir weismachen wollten, das geben in Russland 4 Monate Fahrausweisentzug. Ich konnte nur Schweizerdeutsch, aber verstand, als sie fragten, was das in der Schweiz bedeute. Der vorgestrigen Erfahrung eingedenk habe ich einen Vorschlag gemacht, und gedacht, aber nicht nochmals 10000, und bin mit 2000 eingefahren. Das haben sie nach eingängiger Diskussion untereinander akzeptiert, mir den Fahrausweis gegeben und mich laufen lassen –, und erst nachher ist mir eingefallen, dass das ja Rubel waren, also 70 Franken!
Ein Depp ist ein Depp und bleibt ein Depp!
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Letzter Grenzübergang = bester Grenzübergang
Der Weg zur Grenze war gut, die Strasse i.O. Nur in Pavlodarsk, einer Industriestadt, war die Durchfahrt unvorstellbar. Nicht nur dass wir zehn mal fragen mussten, bis wir wussten, wo der Weg lang geht (in Russland haben wir wieder GPS, danke Janos!), aber der Weg (von Strasse kann man nicht sprechen): Löcher, Löcher, Löcher. Und zwar tiefe, bis 40 cm habe ich geschätzt.
Dafür war der Grenzübergang sensationell: raus aus Kasachstan, 15 Minuten, warten vor dem russischen Zoll 20 Minuten (obwohl vorderstes Fahrzeug, und vorne keine weiteren), dann aber nochmals 20 Minuten und alles war fertig. Sie haben uns auch keine Versicherung mehr angedreht, wie beim Uebergang aus der Ukraine. Keine Durchsuchung, nichts. Einfach: „ok!“
Im nächsten Ort musste uns dann wieder ein Russe voraus fahren, damit wir wussten, wo es lang geht. Er versuchte es dann privat noch mit der Versicherung – ich kannte das Formular –, aber da konnte ich nur Schweizerdeutsch.
Landesgrenze als Klimagrenze
Mit der Landesgrenze haben wir auch eine Klimagrenze überschritten: aus der Steppe in die Taiga. Es gibt wieder Bäume, Felder, Flüsse, Wälder. Wir haben es genossen. Der Himmel war leicht bewölkt, es wurde kühler.
Die Luftfeuchtigkeit stieg. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass nasse Sachen wieder solange zum Trocknen brauchen, wie bei uns. In den Stan-Ländern war ein nasses Handtuch in Nullkommanix trocken, und wir wussten nicht, wohin die vielen Liter Wasser verschwanden, die wir soffen wie Grossvieheinheiten (Pferd, Kuh, Kamel). Jetzt müssen wir wieder pinkeln wie normale Menschen.
Die Uebernachtung in einem Kiefernwald am Ufer eines Sees, in dem wir aber nicht baden konnten, da alles Schilf und Schlamm war, war sehr schön. Ich stellte fest, dass die vielen Schläge wohl die ganze Lenkgeometrie verstellt haben. Beide Vorderreifen sind nach innen sehr stark abgefahren, aussen noch gut. muss sie wenden lassen.
Smog
Pneus
In Novosibirsk habe ich bei der Einfahrt bei einem Reifenhändler die Vorderreifen auf den Felgen drehen lassen: Sofort gemacht, 15 Franken. Jetzt kann die gute Seite abgefahren werden, und wenn das zu stark wird, habe ich noch zwei Ersatzpneus. +2000 / -9
Wir haben bisher 2000 km mehr gemacht, als ich schätzte, sind aber dem Zeitplan 9 Tage voraus. Wir sind schon immer schnell gereist.
Exkurs 3: Raum-Zeit-Aerquivalent
Wir sind jetzt schon so weit, wie wir es uns eigentlich gar nicht haben vorstellen können, auf fast halbem Weg zwischen Moskau und dem Pazifik, und das noch mit einem anständigen Bogen durch Zentralasien. Was für Europäer der Osten (Rumänien, Ukraine, Russland, Kaukasus, ist für hier der Osten. Und die Länder und Orte, die wir durchfahren, genossen und die uns auch geplagt haben, sind selbst schon wieder weit weg. Die Strasse von Chiwa nach Buchara liegt hinter Kasachstan und Kirgisien, die schönen kirgisischen Berge hinter der Steppe.
Ich habe das Zeitgefühl fast verloren, sei das am Tag, wenn wir fahre, wo die Stunden verrinnen, ohne das ich es merke, sei das überhaupt: Welcher Tag im Monat, in der Woche, ich weiss es nur, wenn ich nachsehe, was kümmert es mich. Der Weg, die Distanz, das Fahren, das Erleben – das ist es, was zählt und Eindruck macht. Die Zeit dafür ist frei verfügbar, zählt wenig. Wenn ich müde bin, schlafe ich, wenn nicht, reise ich.
Raum und Zeit
Es muss so was wie ein Raum-Zeit-Aequivalent geben: Die Summe oder das Produkt der Wichtigkeit der beiden Teile ist konstant, und je nachdem welcher Aspekt sich in den Vordergrund drängt, tritt der andere zurück. Ist die Zeit wichtig, wird der Raum zurückgedrängt, ich fliege, nehme den Schnellzug, die Autobahn. Ich nehme den Raum auch nicht gleich war, nicht gleich wichtig. Ist der Raum das Wichtige, tritt die Zeit in den Hintergrund. Ich bummle, fahre mit dem Auto statt zu fliegen, verplempere einen Tag, eine Stunde, mache Umwege der Neugier wegen.
Wir sind in einer Phase der Raumdominanz.
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Jetzt sind wir in einem guten Hotel (Sibir), wir haben georgisch fein gegessen und eine Flasche Wein getrunken, das Internet funktioniert. Alles paletti.
Elos Kommentar
Sibirische Kälte
Meine Vorurteile über Sibirien haben sich schon bestätigt. Gestern, auf der Fahrt zwischen Barnaul und Novosibirsk, setzte Regen ein. An sich hoch willkommen nach der langen Trockenzeit, die wir hinter uns haben, aber eben… Es herrschte nämlich ab da sibirische Kälte: 12 Grad. Das Hotel, in dem wir wohnen, heisst „Sibir“ – das ist bei uns eine Kühlschrankmarke! Allerdings ist das Hotel gut geheizt. Aber sobald wir es verlassen, muss ich fast alles anziehen, was ich dabei habe. Seit Wochen brauche ich wieder Socken. Ich hätte Sonjas Handwärmer doch mitnehmen sollen!
Heute ist es etwas freundlicher, auch wenn ein kaltes Lüftchen weht. Vom Hotelfenster blicken wir auf die Geleise der Transsibirischen Eisenbahn, die Erinnerungen und Fernweh weckt. Und die Landschaft, durch die wir seit der kasachischen Grenze fuhren, erinnert mich an den Film „Dr. Schiwago“. Ich habe immer das Gefühl, der Mann müsste mit seiner Troika um die nächste Ecke kommen, und im Geist höre ich „Laras Lied“.
Novosibirsk ist allerdings eine moderne Stadt, nur ganz wenige alte Häuser – so wie wir uns Sibirien vorstellten – sind geblieben. Es gibt zwar viele Geschäfte und Restaurants, aber alles ist sehr abweisend, so nach dem Motto: „Lieber Kunde, wage nur ja nicht hier hereinzukommen.“ Die sibirische Kälte ist auch so spürbar.
Keine Märchen aus 1001 Nacht
Nun sind wir also schon sieben Wochen unterwegs und haben eine ganze Reihe „märchenhafter“ und auch historischer Orte hinter uns: die Krim mit Sevastopol und Yalta, Astrachan, Wolgograd (Stalingrad), Buchara, Samarkand, dann das wilde Tadschikistan, das Bergparadies Kirgistan, das unwirtliche Kasachstan (Wüste und unangenehmer starker Wind) und nun Sibirien. Ist man einmal da, bleibt nicht viel Exotisches. Es ist alles irgendwie normal: Dritte Welt, so wie wir sie aus Asien, Afrika und teilweise Lateinamerika kennen. Allerdings scheint die Sowjetunion in ihren ärmeren Republiken doch einiges bewirkt zu haben: der Bildungs- und Ausbildungsstand der Bevölkerung scheint relativ gut, die Religion (der Islamismus) hemmt die Entwicklung nicht. Diese …stans wären vielleicht sonst wie Afghanistan. Jetzt sind sie einigermassen friedlich, wenn auch immer ein Pulverfass ethnischer Unruhen.
Die Seidenstrasse hat sowieso nichts Märchenhaftes – nur Staub, Dreck und Hitze – mit ein paar schönen Gebäuden unterwegs. Kirgistan, eines der ärmeren Länder der Region und der Welt, (30 Prozent der Bevölkerung leben nach offiziellen Angaben unter der Armutsgrenze von 1-2 Dollar pro Tag), hat mir landschaftlich am besten gefallen. Aber ausser Schafen, Pferden und Jurten scheint da nicht viel los zu sein. Daran kann die massive Schweizer Entwicklungshilfe wohl auch nicht viel ändern.
So einen Schatten hätten wir haben müssen
Die Sowjetunion lebt noch
Hin und wieder hat uns der Hauch der Geschichte angeweht, vor allem auf der Krim (wo mein Vater im Krieg war und wo an jeder Ecke ein monumentales Kriegerdenkmal anzutreffen ist), in Yalta, wo Europa geteilt wurde, in Wolgograd. Die Stadt scheint irgendwie völlig in der Vergangenheit zu leben. Da der „grosse vaterländische Krieg“ ja ein sowjetischer und nicht allein russischer war, ist hier die Sowjetunion auch noch sehr lebendig – sogar mit Stalin-Sprüchen.
Lenin ist im übrigen auch noch überall präsent. In Novosibirsk sind wir heute morgen gerade an einem riesigen und heroischen Denkmal vorbeigekommen. In Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken hat man wohl keine Berührungsängste mit der Vergangenheit. Man streitet sich untereinander mehr um gegenwärtige Dinge wie Truppenstandplätze, Transitrechte und vor allem um das knappe Wasser.
Gäbe es die Sowjetunion noch, so hätten wir für die gesamte Reise ein einziges Visum gebraucht und nach Rumänien nur eine einzige Grenze überschritten. Wir hätten dann auch nur eine Währung gehabt und hätten uns nicht rechnerisch mit Hunderten und Tausenden beschäftigen und teilweise buchstäblich pfundweise Geld herumtragen müssen. Allerdings hätten wir die Reise dann kaum so durchführen können und wären bedeutend mehr kontrolliert und gegängelt worden. Es ist paradox: mehr Freiheit, aber auch mehr Grenzen und Streit unter Nachbarn.
Fast wie der Main
Ein wenig Geschichte und viel Geographie begegnet uns auf unserem Weg an den Flüssen. Nach der Donau, die wir nun (ob mit dem Velo oder dem Auto) von der Mündung bis zum Delta fast vollständig erfahren haben, haben wir noch weitere grosse Ströme überquert: Den Dnjester und den Djenper, die ins Schwarze Meer münden (sie sind uns aus Berichten über Russlandfeldzüge ein Begriff, als der Schwedenkönig Karl, als Napoleon und als später Hitlers Truppen diese Flüsse weiter nördlich überquerten und hier Schlachten gewannen und verloren); Don und Wolga kennen wir aus der Literatur (Krieg und Frieden, Der stille Don, Dr. Schiwago etc.); am Ural, der weder als Gebirge noch als Fluss imposant wirkt, überschreitet man die Grenze zwischen Europa und Asien; Amurdarja und Syrdarja und waren bei den Feldzügen von Alexander dem Grossen zu überwinden.
Die grossen Flüsse Sibiriens, die alle nach Norden fliessen, liegen bereits hinter und vor allem vor uns. Pavlodar liegt am Irtitsch, der in den Ob mündet, an dem wir gestern angelangt sind (Barnual und Novosibirsk), ein imposanter Strom, der viel Sand bringt. Den Jenessei werden wir demnächst überqueren. Die Angara, der Abfluss im Süden des Baikalsees, friert nie zu. Ganz im Osten bildet der Amur den Grenzfluss zwischen Russland und China. Nur die Lena entspringt westlich der Mitte des Baikalsees erst weiter im Norden. Da kommen wir nicht vorbei.
Aber, wie gesagt, wenn man dann an einem solchen Fluss steht, kommt er einem zwar breiter, aber letztendlich auch nicht viel bedeutender vor als der Main. (eb)
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19.8.
Ausruhen. Wir waren heute in der Stadt. Mir geht es wie Elo: Sie ist lebendig, aber es lebt auch die alte Sowjettradition noch weiter.Von aussen siehst du die Geschäfte und Beizen kaum, Marketing ist ausser Werbung und Plakaten oft ein Fremdwort. Der Kunde muss die Gelegenheit, Kunde zu sein, suchen, die Eingänge sind wenig einladend, Beizen oft im Keller (Klima!), nur über eine eher traurige Treppe zu erreichen, die Türen zu den Geschäften eng, schmal, unbequem. Aber die Bedienung ist dann freundlich.
Morgen früh geht’s ab in Richtung Irkutsk am Baikalsee: ca. 1700 km.
19.8./EJB